Beitrag von Judith von Dall Armi

Der Schulterstand, sarvangasana (Stellung aller Glieder)

„Der Körper ruht nicht schwer auf den Schultern, sondern er strebt wie ein kräftiger Getreidehalm dynamisch und fließend entgegen der Gravitation nach oben.“ (Heinz Grill, Die Seelendimension des Yoga)

Dies ist ein bildhafter Gedanke zu der Übung des Schulterstandes.

Jetzt Anfang August sind die Felder schon gereift und die Halme tragen eine schwere Last. Die Ähren sind prall gefüllt mit vielen aneinander gereihten Samenkörnern. Trotz des großen Gewichtes ist der Halm lang aufrichtet, stabil und leicht, was durch das sanfte Hin- und Herwiegen der Halme im Wind sichtbar wird. Die Wurzeln verlaufen tief in den Boden. Auffallend ist die helle goldene Farbe.
Die Pflanze hat ihre Wurzeln in der Erde. Sie strebt mit ihrem Stängel zum Himmel/ zum Kosmos. Ihre Blüten, die Frucht und Samen hervorbringen (Getreidekörner), spenden den Menschen seit Urzeiten kräftige Nahrung

Betrachte ich einen Getreidehalm genauer, nehme ich seine leichte gegen die Schwerkraft nach oben strebende Bewegung war. Mühelos und zugleich stabil wird die im Verhältnis schwere Ähre getragen.

Der Schulterstand ist eine Umkehrhaltung, d.h. in der Übung ist der Körper umgekehrt gegen die Schwerkraft aufgerichtet.

Wenn der Mensch aufrecht steht, ruht der Kopf oben, das Haupt mit seinen Sinnen und seinem Denken.
In der Mitte befindet sich der Brustkorb mit den inne liegenden Organen wie das Herz und die Lunge. Hier spiegelt sich das Seelen- und Empfindungsleben des Menschen wieder.
Im unteren Bereich des Beckens mit der kräftigen Lendenwirbelsäule befindet sich das Stoffwechselleben. Dieses spiegelt die Handlungsfähigkeit und das Willensleben des Menschen wieder, das in die Zukunft gerichtet ist.

Im Schulterstand kehrt sich dieses Bild um. Das Oben wird unten und das Unten wird oben. Die Mitte strebt in umgekehrter Weise nach oben.

Die Fähigkeit zu denken macht den Mensch erst zum Menschsein. Mit „Denken“ ist hier nicht das gewöhnliche Denken gemeint, sondern die Fähigkeit, geeignete Vorstellungen und entsprechenden Empfindungen zu entwickeln, die idealerweise  dann in die Umsetzung finden.

Wie aufbauend ist es z. B. wenn ein Mensch sein gewohntes Handeln überdenkt, es reflektiert, dadurch zu neuen geeigneteren Vorstellungen kommt, sein Empfindungsleben belebt und sein gewohntes Handeln erneuert.

Ist dies der Fall, sind sogenannte aufbauenden Ätherkräfte oder neue Lebenskräfte entstanden und wirksam geworden.  Dieses Bild ist der Grundgedanke des Schulterstandes.

Kann das Bild des fließenden, ohne Anstrengung leicht nach oben strebenden Körpers bewusst gedacht und gefühlt werden, stimmen sich die Willens- und Handlungskräfte völlig neu ein. Durch eine immer wieder neu gedachte durch die Vorstellung des „Wachsens“  aus der Brustwirbelsäule gegen die Schwerkraft wird die Halswirbelsäule entlastet und der Teilnehmer macht neue Erfahrungen.

Der Yogalehrer ist stets bemüht, das freie Bild des Schulterstands aufzubauen, so dass die Schüler es sich selbst vorstellen können. Eine mögliche Übungsbeschreibung wäre:

  • Das Bild der Übung herausarbeiten, z. B. was sind Ätherkräfte oder Lebenskräfte?
  • Der TN liegt am Boden und besinnt sich auf das Bild, das er in die Umsetzung bringen möchte
  • Er schwingt in einer weiten Bewegung aus der Körpermitte seine Beine waagrecht hinter den Kopf. Er legt seine Hände seitlich an die Nierengegend um den Rücken etwas zu stützen
  • Einen kurzen Moment verweilt er in dieser Stellung. Er hält sich bewusst zurück und sammelt sich um nicht willentlich die Beine nach oben zu bringen
  • Er stellt sich das „Hochwachsen, das mühelose Aufrichten, den lebendigen Impuls“ aus der Brustwirbelsäule nach oben vor
  • Durch aufstrebende Dynamik aus der Brustwirbelsäule gleiten die Beine wie von selbst nach oben. Die Lebendigkeit der Brustwirbelsäule bleibt stets erhalten und wird immer wieder neu mobilisiert
  • Der Übende bleibt solange in der Stellung wie er den Gedanken bewusst aufrecht halten kann
  • Der Atem gelangt auf natürliche Weise in den unteren Bauchbereich
  • Zum Auflösen der Stellung legt er die Arme zur Hilfe auf den Boden. Sie dienen als „Hebel“ , die in den Boden gedrückt werden damit der Rücken bzw. die Wirbelsäule harmonisch abgelegt werden kann.

Mit diesem Bild des Schulterstandes würde ein

  • zu strenges oder gar rein körperlich orientiertes Hineingehen in den Schulterstand
  • oder einfach nur der Umkehr gerecht werden wollen, dass man die Beine an die Wand hoch legt
  • oder nur das Gesäß mit einem Kissen erhöht,

nicht mehr entsprechen.